„Wenn wir nicht mehr reisen, werden wir noch dümmer“

Seit jeher beschäftigt sie sich mit Büchern. Als Autorin schrieb Elke Heidenreich zahlreiche Bücher. Zahllose las sie, viele legte sie Buchbegeisterten ans Herz andere kritisierte sie. Nun feierte sie ihren 80.-sten Geburtstag.

Ein Porträt

Ihre Merkmale äussern sich durch Augenmaß, durch ihre Unverblümtheit, Eigenwilligkeit und ihr Herzblut, stets mit Biss, Charme und Stil. Vor 80 Jahren kam Elke Heidenreich mitten im zweiten Krieg zur Welt. Die Familienkonstellation erwies sich als schwierig. Sie erzählte über ihre Mutter: «Ich bin Anfang 43 geboren – und welche Frau wollte denn im Krieg ein Kind? Noch dazu in Essen, im Ruhrgebiet. Sie wollte einfach nicht. Mein Vater war auch so ein Luftikus. Als ich schliesslich geboren wurde, war ihre Haltung mir gegenüber äusserst skeptisch, manchmal auch etwas lieblos und sehr streng war sie. Aber das waren die Frauen aus dem Krieg alle.»
Elke Heidenreich

Kraft durch Lesen

Elke Heidenreich beginnt zu lesen. Die Bücher und ihre Geschichten verhindern Pessimismus und Flauten, wecken ihre Neugier. Bücher treten nun als ihren allgegenwärtigen Wegbegleiter ein, dienen als Oase in kniffeligen Zeiten. Heidenreich wird zur Mediatorin der Literatur, holt bereits bestehende und zukünftige Leseratten ins Boot.

«Ich denke, dass Lesen nicht wirklich dümmer macht, sondern klüger. Ich denke, dass man, wenn man liest, wenn man sich einlässt auf Geschichten, erstens getröstet ist: Geschichten heilen keinen Krebs, keinen Liebeskummer und keine finanziellen Pleiten. Lenken einen aber drei Stunden ab und in den drei Stunden wächst Kraft, danach kann man wieder. Und ich denke, Geschichten und Romane erklären einem ein bisschen die Welt, in der man lebt, und wenn man die erklärt kriegt, ist man etwas toleranter.»
Elke Heidenreich

Lorbeeren ernten mit Kunstfigur Else Stratmann

Die Tätigkeit als freie Journalistin, Literaturkritikerin und Kolumnistin beginnt Heidenreich nach ihrem Studium. Lorbeeren erntend kommentiert sie mit der Kunstfigur Else Stratmann die Geschehnisse zwischen 1975 und 1987.

So wie ihr der Schnabel gewachsen ist und authentisch bringt sie die Dinge auf den Punkt. Auf diese Weise eckt sie zwar manchmal an, wird aber auch gern als Dauergast in Talkshows gesehen. Auf eine unschöne Erfahrung belief sich ihre Differenz mit dem ZDF 2008: Sie hätte sich eine bessere Sendezeit für ihre Literatursendung «Lesen!» gewünscht, besonders der Kultur wegen. Dies wurde ignoriert und ihre Sendung nach fünf Jahren abgesetzt.

Mit Kater «Nero Corleone» in die Bestseller-Listen

Unbeirrbar taucht Elke Heidenreich weiterhin in die «tiefe See der Bücher» ein. Bereits 1992 hatte sie ihren ersten Prosaband «Kolonien der Liebe» veröffentlicht. Mit Kater «Nero Corleone» erreicht sie Bestseller-Listen. Weiterhin schreibt sie Librettos, Romane, Bücher über Mode und Venedig.

Jüngst schreibt sie über ihre Reisen

«Reisen verändert den Blickwinkel. Die Dinge relativieren sich. Kleinkram ist dann nicht mehr so wichtig. Ob die Mülltonne am richtigen Ort steht oder die Treppe am richtigen Tag geputzt ist, das wird irgendwann wirklich scheißegal. Die Welt ist so groß und so vielfältig – und dann kann ich diesen Kleinkram irgendwann mal abhaken.»
Elke Heidenreich

Gemäß Interview mit Elke Heidenreich, von Kristian Teetz von RND, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland

Sie fühle sich gerade wie 40, sagt Elke Heidenreich – und so klingt die 80-Jährige im Interview auch: Die Literaturkritikerin und Autorin spricht schnell, engagiert und gut gelaunt. Sie erzählt, warum sie gegen das Gendern ist, warum sie ihren Kollegen Denis Scheck scharf kritisiert – und was sie am Reisen so liebt.

Frau Heidenreich, ein Lebensinhalt ist für Sie das Reisen. Wenn Sie unterwegs sind, fahren Sie dann lieber an ruhige, gediegene Orte, um sich ein bisschen auszuruhen? Oder suchen Sie auch das Risiko?

Ich reise nie, um mich auszuruhen, denn ich bin ja nicht fest angestellt. Ich muss also keinen Urlaub abfeiern. Mein Leben gestaltet sich sehr ruhig zu Hause mit Schreiben und Lesen. Das heißt: Wenn ich reise, dann immer nur in turbulente Städte, also nie ans Meer, wo man die Liege mit einem Handtuch belegt. Ich will auf meinen Reisen wirklich etwas erleben.

Würden Sie sagen, man ist auf Reisen ein anderer Mensch als zu Hause?

Nein, ich hoffe, dass man auch unterwegs derselbe Mensch bleibt. Man lernt ein bisschen was dazu, man wird vielleicht ein bisschen anders auf Reisen, etwas toleranter, etwas demütiger, wenn man sieht, wie andere Menschen leben. Viele Menschen, die man trifft, leben ja nicht in einer Demokratie oder in einem Luxus wie wir. Ich reise aber genau deshalb, um auch diese Facetten unserer Welt zu sehen. Aber am Ende nehme ich mich und mein ganzes Wesen, meine Ungeduld, meine Neugier immer mit. Und die bringe ich auch wieder mit nach Hause.

Sie schreiben in Ihrem Buch „Ihr glücklichen Augen“, aus dem Sie auch auf der Lit.Cologne lesen werden, den Satz: „Also reise ich immer wieder los, einfach so, ohne große Erwartungen. Ins Unbekannte. Und was kommt mir meist entgegen? Das Bekannte.“ Was meinen Sie damit?

Dass die Menschen auf der ganzen Welt dieselben Sehnsüchte haben. Sie wollen glücklich sein, sie wollen ein Glas Wein mit ihren Liebsten trinken, sie wollen frei sein, sie wollen sich unterhalten. Ich bin überall auf Freundlichkeit gestoßen. Wenn man irgendwo wirklich ganz fremd ist und nicht einmal die Sprache kann – wie in arabischen Ländern oder in Russland – und radebrechend jemanden um Rat fragt, habe ich immer die Erfahrung gemacht, dass die Leute einem helfen und freundlich und nett sind. Ich habe mich nie irgendwo wirklich ausgestoßen oder abgelehnt gefühlt, weil ich glaube, dass uns das Gemeinsame auf der Welt mehr verbindet, als uns das Fremde trennt.

Ein Teil des Reisens ist ja immer auch nach Hause zu kommen.

Ja, das ist das Schöne. Ich bin keine Nomadin. Wenn ich unterwegs bin, auch wenn eine Reise mal nicht so schön ist, weiß ich: Ich habe mein Zuhause, ich kann wieder zurück, ich verfüge immer über einen Anker. Und das ist ein gutes Gefühl. Ich bewundere diejenigen, die das nicht brauchen, die einfach losreisen, ein Jahr durch die Welt trampen und keine Wohnung haben. Das könnte ich nicht. Ich muss immer wieder zurück in mein Nest.

Sie lernen also unterwegs schätzen, was Sie zu Hause haben?

Ja, natürlich. Die Leute fragen mich oft: Was ist das Wichtigste beim Reisen?

Und was antworten Sie?

Das Wichtigste ist, ohne große Erwartungen zu fahren. Einfach neugierig sein, Herz aufmachen, Kopf, Augen, Ohren öffnen und schauen. Ebenfalls wichtig ist mir, mit nur wenig Gepäck zu reisen. Die meisten Menschen begehen den Fehler, dass sie viel zu viele Klamotten dabeihaben. Ein kleines Köfferchen reicht.

Die Erfahrung, dass man viel zu viel einpackt, kennen wahrscheinlich fast alle. Was nehmen Sie denn mit in Ihrem kleinen Köfferchen?

Man braucht eine gute Hose und eine strapazierfähige Hose. Eine gute, falls man mal ins Theater geht oder eingeladen wird, und eine zweite, mit der man zur Not auch im Regen gehen kann. Ein T-Shirt für den Tag, eins für nachts, einen dicken Pullover, ein schönes Kleid, falls mal was los ist, ein Paar Turnschuhe, ein Paar dicke Schuhe, fertig. Das genügt doch. Dazu ein bisschen Unterwäsche, das reicht.

Ich werde es mir zu Herzen nehmen.

Und immer ein, zwei Bücher. Oder auch mehr. Die kann man ja, wenn man sie gelesen hat, irgendwo liegen lassen. Dann wird das Gepäck schon wieder leichter.

Ist Lesen so etwas wie Reisen? Reisen in andere Köpfe, in andere Leben?

Ja, wenn Sie so wollen, ja. Man liest sich in andere Welten. Aber wenn ich hochschaue, bin ich ja doch wieder in meiner eigenen Welt.

Sie haben über Jahre Bücher in Ihrer ZDF-Sendung „Lesen!“ vermittelt, machen dies heute auch immer noch im Internet. Sie kritisieren aber nicht, sondern empfehlen ausschließlich. Warum?

Das bisschen Sendezeit im Fernsehen oder im Radio, das wir für die Kultur kriegen, das bisschen Platz in den Zeitungen, nutze ich doch nicht noch, um ein Buch herunterzumachen. Außer ich bekomme von einer Zeitung oder von irgendwem den Auftrag, ein bestimmtes Buch zu besprechen, und es gefällt mir dann nicht. Dann kritisiere ich es auch. Aber von mir aus würde ich niemals ein Buch vorschlagen, was mir nicht gefällt, nur um es dann zu rasieren. Die Methode von Denis Scheck, Bücher hochzuhalten und dann in die Tonne zu hauen, finde ich geradezu unsäglich. Das ist überhaupt nicht mein Stil.

Was stört Sie daran?

Ich bin jemand, der die Literatur leidenschaftlich liebt. Und ich möchte diese Leidenschaft weitergeben. Das hat mich auch Marcel Reich-Ranicki gelehrt. Denis Scheck haut ja nicht nur die Bücher in die Tonne, sondern urteilt auch noch, dass alle Leute, die diese Bestseller kaufen, die er schlecht findet, Vollidioten sind, weil sie so etwas lesen. Das finde ich arrogant. Ich verstehe auch nicht, warum die ARD sich das immer noch bieten lässt und warum sie uns das bietet, warum das nicht mal aufhört. Ich kämpfe wirklich sehr heftig dagegen. Mein Bedürfnis war immer, die Leser zu erwecken und zu erfreuen. Das habe ich mir zugetraut. Und das hat funktioniert.

Auch Salman Rushdie war schon auf der Lit.Cologne

In wenigen Tagen beginnt die Lit.Cologne. Sie treten dort auch auf. Warum sind solche Literaturfestivals so wichtig?

Die Lit.Cologne bietet zehn Tage lang zahlreiche Veranstaltungen über Literatur und mit Literaten. Es waren in den vergangenen 22 Jahren die besten Autoren da, Susan Sontag etwa oder Salman Rushdie oder T. C. Boyle. Die kommen alle, weil sie wissen, sie werden gut betreut, gut untergebracht und haben ein tolles, aufgewecktes Publikum, das sie hören und sehen will. Solche Veranstaltungen und die Nähe zum Autor bringen die Leute wirklich ans Lesen. Ich bin vor über 20 Jahren Gründungsmitglied gewesen und moderiere jetzt wieder die große Eröffnungsgala in der Philharmonie. Das wird meine letzte Gala sein, das ist schon sehr anstrengend, aber einmal will ich es noch machen.

Sie lesen viel und lieben die deutsche Sprache. Sie setzen sich auch für die Belange von Frauen ein, haben etwa ein Buch über die Literatur von Frauen geschrieben. Wie stehen Sie zum Gendern?

Ich lehne es total und einhundertprozentig ab. Wir Frauen haben gerade in den vergangenen Jahren begriffen, dass wir völlig gleichberechtigt sind, auch wenn wir noch nicht überall über die gleichen Rechte verfügen, nicht überall die gleiche Bezahlung im Job bekommen. Aber jetzt wird wieder unterschieden zwischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen. Was für ein Quatsch! Das heißt, ich werde wieder reduziert auf mein Frausein. Das will ich nicht. Ich bin ein Mensch, ich bin ein Bürger. Ich bin ein Autor, von mir aus, wenn ich allein genannt werde, auch eine Autorin.

Und wenn mehrere genannt werden?

Dann fühle ich mich unter dem Sammelbegriff „Autor“ durchaus mitgenannt und muss nicht als Mädel extra ausgewiesen werden. Und davon abgesehen verhunzt es auch die deutsche Sprache. Ich kann kein 3sat mehr gucken, weil die so konsequent gendern. Ich finde das idiotisch. Aber wenn es ums Geld geht, dann machen sie es nicht. Dann heißt es: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Das sind dann die Männer. Wenn man dann noch Ärztinnen und Apothekerinnen nennen würde, wäre es schon wieder teurer. Es ist so verlogen.

Sehen Sie eine Chance, dass sich das wieder einpendelt?

Ich hoffe, dass die Vernunft siegt gegen diesen Wahn.

Sie sind vor wenigen Tagen 80 Jahre alt geworden. Sind Sie heute optimistischer oder pessimistischer als früher?

Das hat, glaube ich, mit dem Alter gar nichts zu tun. Ich bin wahnsinnig dankbar für mein Leben. Ich habe ja mein ganzes Leben in einem demokratischen Land ohne Krieg verbringen dürfen – abgesehen von den ersten beiden Jahren, in denen noch Krieg herrschte, an die ich mich aber nicht erinnere. Ich konnte immer sagen, was ich denke. Ich hatte alle Möglichkeiten. Ich durfte die Aufbau- und Nicht-nachdenk-Jahre erleben, in denen wir alles machen konnten, etwa während der 68er-Bewegung. Wir konnten gegen die Professoren de­mons­trie­ren, wir konnten mit unseren Eltern abrechnen wegen des Zweiten Weltkriegs. Wir haben wirklich Demokratie gelebt und erlebt, wofür ich unendlich dankbar bin.

Es ist keine Frage, dass wir alle unser Verhalten ändern müssen

Und heute?

Wenn ich jetzt in die Welt gucke, werde ich natürlich pessimistischer. Andererseits weiß ich, dass ich diesen ganzen Mist nicht mehr so lange miterlebe, weil ich ja schon die größte Strecke hinter mir habe. Aber ich bin sowieso kein Mensch, der groß zurückblickt oder groß in die Zukunft. Ich lebe schon sehr im Hier und Jetzt und habe im Hier und Jetzt begriffen, dass wir alle unser Verhalten ändern müssen, auch ich.

Wenn Sie so in der Gegenwart leben, wie Sie es sagen, spielt dann überhaupt eine Zahl wie 80 eine Rolle?

Nee, gar nicht. Ich habe Tage, da fühle ich mich wie 108, und Tage, da fühle ich mich wie 50. Im Moment fühle ich mich wie 40 – also sehr gut, vor allem weil die ganze Corona-Quälerei vorbei ist. Und manchmal fühle ich mich auch wie 80. Das ist ganz unterschiedlich. Aber es war mir immer ziemlich egal, wie alt ich bin, weil jedes Alter seine guten und seine schlechten Seiten hat. Ich bin jetzt etwas klüger als früher und auch etwas mehr angekommen in meinem Leben. Dafür atme ich schwer und komme die Treppen schlechter hoch. Das konnte ich früher mit 17 besser, dafür war ich blöder. Sie sehen, es hat alles sein Für und Wider.